Psychotherapie
Wenn ADHS verborgen bleibt: Kompensation verstehen
Was verbindet Eckart von Hirschhausen, Jennifer Lopez und Michael Jordan? Sie alle haben ADHS. Moment, die sind doch erfolgreich! Die können ja gar kein ADHS haben. Oder etwa doch?
In meinem Arbeitsalltag erlebe ich es sehr oft, dass Klientis auf meinen Verdacht, dass sie eine ADHS haben könnten, die bisher unentdeckt blieb, abwehrend reagieren. "Ich? Aber ich habe doch gar keine Probleme, ich war auch gut in der Schule und meine Wohnung ist überhaupt nicht chaotisch!"
Wie kann es also sein, dass jemand gar nicht merkt, dass er oder sie eine ADHS hat? Das Stichwort lautet Kompensation. Wenn Menschen gut kompensieren, fallen sie lange Zeit nicht auf, sie haben gute Noten, sind erfolgreich im Job und können tatsächlich überdurchschnittlich gut organisiert wirken. Was niemand sieht, ist die innere dauerhafte Erschöpfung. Von außen ist nicht sichtbar, dass der vor einem liegende Tag schon morgens viel zu viel ist und nicht bewältigbar scheint, auch wenn das am Ende des Tages dann doch klappt.
Was ist Kompensation?
Wird eine ADHS kompensiert, bedeutet das, dass die jeweilige Person nach außen hin kaum auffällt. Sie ist nicht super chaotisch, verplant oder unzuverlässig. Ganz im Gegenteil. Gut kompensierte Menschen fallen wenig bis gar nicht auf. Die ADHS bleibt im verborgenen. Das heißt nicht, dass die ADHS schwach ausgeprägt ist oder gar nicht vorhanden. Es heißt, dass der Mensch sehr viel tut, um die Symptome der ADHS abzupuffern und abzumildern. Und das kann sehr anstrengend sein.
Stell dir vor, jemand hört zunehmend schlechter. Statt sich um ein Hörgerät zu kümmern, liest die Person viel von den Lippen ab oder versucht, das Gesagte aus dem Kontext heraus zu erraten. Nach außen hin fällt das gar nicht auf, für die betreffende Person ist das aber sehr anstrengend. Und dann kommt noch hinzu, dass die Person irgendwann gar nicht mehr merkt, dass sie all diese Dinge tut und es für sie ganz normal wird, sich so zu verhalten. Das ist Kompensation.
Das bedeutet also, dass jemand mit ADHS viele kleine Dinge tut, um die Symptome auszugleichen - und das, ohne es wirklich zu merken. Diese Strategien werden also nicht bewusst und geplant eingesetzt. Den betreffenden Personen ist oft nicht klar, wieso sie tun, was sie da tun.
Wie kompensieren Menschen ADHS?
Ganz individuell! Personen entwickeln über viele Jahre ganz unterschiedliche Strategien, um die Auswirkungen der ADHS abzupuffern. Hier ein paar Beispiele:
- Äußere Struktur: Im Idealfall haben Kinder mit nicht diagnostizierter ADHS starke Strukturen im Alltag, beispielsweise durch gut organisierte Eltern oder institutionelle Strukturen wie Nachmittagsbetreuung oder ähnliches. Gibt es einen gute Orientierung durch klare Rahmenvorgaben und viel Unterstützung, kommen viele Kinder trotz allem ganz gut durch die Schulzeit. Das kann dann beispielsweise die nahe Begleitung bei den Hausaufgaben, dem Schulranzen packen sein oder Eltern, die den Tag gut strukturieren und für viel Beschäftigung sorgen oder eben auch nicht. Je nach dem, was das Kind benötigt. Einige Erwachsene suchen sich instinktiv Arbeitsfelder, in denen eine starke äußere Struktur gegeben ist, wie zum Beispiel agiles Management in der IT, das für klare Regeln und überschaubare Aufgabenpakete sorgt. Da Menschen mit ADHS häufig Schwierigkeiten mit Planung, Organisation und Zeitgefühl haben, ist es sehr hilfreich, wenn es im Außen Mechanismen gibt, die das abfangen oder zumindest erleichtern.
- Selbst geschaffene Struktur: Häufig merken Menschen mit ADHS, dass Ihnen feste Routinen und Abläufe helfen, den Alltag zu meistern. Dann gibt es Regeln, was wann zu tun ist oder Aufgaben, die immer wieder zur selben Zeit anstehen. Solche Regeln können zum Beispiel sein, dass alles sofort nach der Nutzung wieder an den ursprünglichen Platz zurückgestellt wird oder dass immer samstags gewaschen und die Wäsche sobald sie trocken ist, zeitnah abgehängt wird, statt sie tagelang auf dem Wäscheständer hängen zu lassen. Auch sofort alles in den Terminkalender einzutragen und konsequent zu führen kann so ein Hilfsmittel sein. Ergebnis: der Wohnraum ist ordentlich und Termine werden nicht vergessen.
- Perfektionismus: Um nur keine Fehler zu machen, nehmen Menschen mit ADHS viel Aufwand auf sich. Alles wird doppelt und dreifach kontrolliert, lieber noch einmal überprüft, nachgelesen oder sichergestellt. E-Mails werden mehrfach durchgelesen, bevor sie abgeschickt werden, Präsentationen bis ins Detail überarbeitet, Fehler werden als katastrophal empfunden und ziehen Selbstwertkrisen nach sich. Ständiges überprüfen und perfekt ausarbeiten kostet Zeit und Energie. Oft führt das auch dazu, dass Aufgaben aufgeschoben werden, das berühmte Prokrastinieren.
- Optimierungstools: Kompensierte Menschen haben häufig das Smartphone voller Apps, die dabei helfen, Struktur zu schaffen. Kalenderapps, To-Do-Apps, Listen, usw. Optimieren und Dinge noch effizienter machen, wird von vielen ADHSler:innen quasi als Volkssport betrieben.
- Gamifikation, Zeitdruck und andere Tricks: Da das ADHS-Gehirn nur bei Interesse oder Stress (in Maßen!) arbeitsbereit ist, funktioniert alles, das nach Herausforderung oder Spaß klingt, ziemlich gut. Das können selbstgestellte Challenges sein, wie z. B. eine bestimmte Menge an Aufgaben in einer bestimmten Zeit schaffen oder Task-Boards, in denen abgehakt werden kann, wenn etwas erledigt wurde. Das bekannte Prokrastinieren, bis zum letzten Moment funktioniert auch ziemlich gut. Dann steht aufgrund neurochemischer Prozesse mehr Dopamin zur Verfügung, so dass der Motor doch noch anläuft.
Die aufgezählten Verhaltensweisen sind nur beispielhaft, es gibt noch viel viel mehr Kompensationsstrategien und sind von Person zu Person sehr unterschiedlich.
Maskieren
Und dann gibt es neben der Kompensation, die also etwas ausgleichen soll, noch das sogenannte Maskieren, das auch bei ADHS stattfindet. Es geht dann darum, bestimmte Verhaltensweisen zu unterdrücken oder zu überspielen.
- Sich zwingen still zu sitzen oder Hände und Beine regelrecht verknoten, damit da nichts wippen kann.
- Etwas sagen, nichts sagen oder nicht zu viel reden.
- Leiser lachen.
- Anderen nicht ins Wort fallen.
- Das Thema nicht wechseln.
- Gründe finden, wieso ein bestimmtes Hobby nicht mehr weitergeführt wird, obwohl schlicht das Interesse nicht mehr da ist (wieso ist das eigentlich schlimm?).
- Verschleiern, dass man Termine nicht mehr im Kopf hat.
- Interessiert nachfragen auch bei Themen, die man selbst langweilig findet.
- So tun, als sei die laute Umgebung überhaupt kein Problem.
Auch hier ist das nur ein kleiner Auszug dessen, was Menschen mit ADHS täglich im Blick haben, um nicht aufzufallen.
Ist es schlimm, zu kompensieren / maskieren?
Jein. Grundsätzlich ist es super, wenn ein guter Umgang mit der bisher unbehandelten ADHS gefunden wurde. Allerdings kostet das auch richtig was. Nämlich Kraft und Energie. Es ist anstrengend, immer alle Regeln im Kopf zu haben, sich selbst ständig zu monitoren und unter Kontrolle zu halten. Von außen betrachtet, läuft alles rund, das innere Erleben ist häufig von Erschöpfung und Müdigkeit geprägt.
Beim Maskieren würde ich eine Grenze ziehen: wenn die selbst auferlegten Verhaltensregeln dabei helfen, ein gutes soziales Miteinander zu schaffen, also beispielsweise die andere Person ausreden zu lassen bzw. zu Wort kommen zu lassen und einem das wichtig ist, finde ich das vertretbar. Aber still zu sitzen oder sitzen zu bleiben, wenn dazu kein wichtiger Anlass besteht? Oder Gründe zu finden, wieso man an etwas das Interesse verloren hat? Wenn es nur einen selbst betrifft und niemand zu schaden kommt: lass es sein! Zappel rum, machs dir bequem, steh auf und wechsle die Hobbys so oft wie du möchtest und es dein Bankkonto hergibt!
Welche Lösung gibt es für das Kompensieren?
Vorstellbar sind zwei Wege. Einer ist die Medikation. ADHS-Medikamente sorgen für einen höheren Dopaminspiegel, so dass vieles einfacher und leichter wird und nicht mehr Unmengen an Energie verschlingt.
Der andere oder besser der zusätzliche Weg wäre, genau zu prüfen, aus welchen Gründen kompensiert oder maskiert wird. Tust du das, weil du denkst, dass es von dir erwartet wird oder weil es dir selbst wichtig ist? Kommt jemand zu Schaden, wenn du nicht mehr kompensierst oder maskierst? Nein? Dann schau doch mal, ob du in kleinen Schritten an manchen Stellen etwas weniger streng mit dir sein kannst. Auch das schafft Erleichterung.
Kompensation ist beides: Fluch und Segen zugleich. Ich hoffe, du findest für dich einen guten Mittelweg oder merkst vielleicht, dass dein Alltag viel anstrengender ist, als er sein sollte. Dann informier dich doch über ADHS, so dass es künftig etwas leichter werden kann.
Gute Infos findest du zum Beispiel auf diesen Seiten:
Du willst dich mit anderen austauschen? Dann ist das Wohnzimmer Neurodivers vielleicht etwas für dich.
Und wenn du mal wieder etwas zu impulsiv warst, dann helfen diese Artikel :D
